Horchheimer erinnern sich daran, wie sie 1944/45 mit Hunderten in ihren „Bunker“ flüchteten
Artikel aus der Rhein-Zeitung vom 13. Oktober 2021
von Redakteurin Katrin Steinert
Der 576 Meter lange Eisenbahntunnel zwischen Horchheim und Pfaffendorf wird zurzeit abgerissen, um ihn größer neu zu bauen. In das Großprojekt der Deutschen Bahn, das seit August dieses Jahres läuft, fließen 40 Millionen Euro, wie der Konzern auf mehrfache Nachfrage unserer Zeitung mitteilt. Während die Abrissbagger und Meißel dem Fels zu Leibe rücken, erinnern sich Zeitzeugen daran, wie sie mit Hunderten anderen Horchheimern in den Kriegsjahren 1944 und 1945 in dem alten Tunnel Schutz suchten – immer wenn über ihnen amerikanische und britische Bomber flogen.
Margot Stoll ist eine dieser Zeitzeugen. Die 81-jährige Seniorin war damals vier beziehungsweise fünf Jahre alt. Immer dann, wenn die Sirenen Fliegeralarm meldeten, musste sie mit Mutter und Geschwistern in „das Tunnéll“, wie die Einheimischen den Tunnel nennen. Die Familie lebte in der Meesstraße, gute 600 Meter Fußweg entfernt. Die Kinder waren nie ganz ausgezogen, bereit, jederzeit loszulaufen.
Margot Stoll erzählt: „Bei Alarm hieß es: „Schnell, schnell, anziehen und ab in das Tunnéll.“ Mäntelchen drüber, Schuhe an, Tasche mit Essen geschnappt, und los ging es, auch bei Regen und Schnee. Der Alarm kam zu jeder Tages und Nachtzeit. Die kleine Margot, ihre Geschwister, die Mutter und Großmutter machten sich auf den Weg zum schützenden Bauwerk, Hunderte andere mit ihnen. „Einmal trat meine Oma in der Eile in eine Weiche“, berichtet die 81-Jährige. Sie erinnert sich daran, wie jemand den Schuh rausholte und zurückgab. „Die Leute halfen sich alle gegenseitig“, sagt sie.
Der Tunnel war der einzige Schutz der Horchheimer. Die benachbarten Pfaffendorfer hatten einen richtigen Bunker. Die Horchheimer kamen von allen Seiten. Hinunter zur schützenden Öffnung führten von oberhalb der Beckenkampstraße Trampelpfädchen, berichtet Margot Stoll. Wer weiter weg wohnte wie sie selbst, der harrte manchmal tagelang im kalten zugigen Tunnel aus. „Nur meine Mutter ist mal heimgelaufen, um etwas für uns zu kochen.“
Wie es damals im Tunnel aussah, davon erzählt ein Bild des Horchheimer Malers Alfred Erich Euchler (1888–1968). Das hängt heute im Eifeler Landschaftsmuseum in der Mayener Genovevaburg. Die Szenerie zeigt eine Ansammlung von Menschen im Eisenbahntunnel, viele Frauen, Kinder und Senioren sind dicht gedrängt, dazwischen Kinderwagen, Bänke, Betten. In einer der Mauernischen sitzen Kinder auf einem Sofa, oben in einem Bogen ist ein Bett eingebaut, auf dem Kinder liegen, weit im Hintergrund des Tunnels ist eine Dampflok zu sehen. Im Horchheimer Ortsmuseum ist ein DIN-A3-großer Abzug des Bildes zu sehen.
Margot Stolls Familie schlief nur eine Armlänge entfernt vom Gleis. Der Vater hatte seinen Lieben 1944 aus Balken und Brettern ein Etagenbett und eine Bank für den Tunnel gezimmert, bevor er als Beladeschaffner für die Eisenbahn nach Sibirien abgeordnet wurde. Ihre Mutter war mit dem vierten Kind schwanger und schlief mit einem unten, die anderen oben. „Alles war mit so fiesen grauen Decken abgehängt, weil die Züge so nah standen“, sagt die 81-Jährige.
Ein Mann, der heute noch am Tunnel wohnt und immer mal wieder schaut, wie die aktuellen Abrissarbeiten vorangehen, erinnert sich im Gespräch mit unserer Zeitung daran, dass es damals Nummern im Tunnel gab, die an den Wänden standen und den Familien anzeigten, wo ihr Platz ist. „Wir hatten die 27“, berichtet der über 80-Jährige. „Jeder wusste genau, wem welche Sachen gehörten.“ Jede Familie hatte aber Angst vor Plünderung, wenn sie zwischendurch zu Hause war und ihre Sachen im Tunnel zurückließ.
Die kleine Margot und die jüngeren Kinder mussten bei Fliegeralarm immer am Platz bleiben, während Ältere freier herumlaufen durften. „Es fuhren ja Züge auf den beiden Gleisen, zwar langsam, aber das war ja trotzdem gefährlich“, berichtet Margot Stoll. Außerdem konnten Kinder im Gewusel und in der Dunkelheit verloren gehen. Die Seniorin erinnert sich noch gut an die direkten Nachbarn im Tunnel. Vor ihnen war die Familie Rippelbeck, „das waren bessere Leute“. Die Frau drückte die kleine Margot öfter. „Sie sagte immer: „Wenn der Krieg zu Ende ist, kriegst du was.“
Auch der 86-jährige Horchheimer Helmut Mandt flüchtete als Zehnjähriger mit Mantel und Köfferchen über die Bächelstraße in den Tunnel. Er erinnert sich, dass dort auch Militärfahrzeuge abgestellt wurden, um vor den Angriffen zu schützen. „Für uns Kinder war es toll, darauf rumzuklettern“, sagt er und weiß, dass nur Kinder so unbefangen sind. Im schützenden Bauwerk hielten auch ab und zu Lazarettzüge, die stöhnende Verletzte transportierten. Auch Züge mit Zwangsarbeitern stoppten hier.
Daran erinnert sich Robert Stoll, der Mann von Margot Stoll, noch genau. „Einige von denen haben immer so „Holz-Bippchen“ gemacht und wollten die gegen Brot tauschen“, erzählt der 91-Jährige. Als es einmal zum Tauschgeschäft mit den Spielzeughühnern kommen sollte, sah dies ein Bewacher und wollte den Handel unterbinden. Da kam es fast zum Aufstand, die Horchheimer wurden laut und vertrieben den Aufseher, erzählt Robert Stoll und lacht stolz. Er war Teenager und wohnte nur einen Katzensprung vom Tunnel entfernt. So konnte er tagsüber auch schnell mal heim flitzen. Einmal spielte er draußen, als plötzlich eine Luftmine auf den Tunnelfels fiel. „Es gab eine enorme Druckwelle, ich flog weg und lag unter Fremdarbeitern.“ Die halfen auch im Ort. Die Druckwelle war auch im Tunnel zu spüren. Wäre die Luftmine vor die Öffnung gefallen, hätte sie viele getötet.
Die Seniorin Margot Stoll hat noch heute etwas, das sie an die Zeit im Tunnel erinnert und an die Frau, die die kleine Margot damals umarmte und ihr versprach, ihr etwas zu schenken, wenn der Krieg vorbei ist. Die Frau hielt ihr Versprechen. Margot Stoll besitzt seitdem kostbare Puppenspielzeugmöbel aus Rattan. In den vergangenen Jahrzehnten haben daran nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Kinder, Enkel und Urenkel Freude gehabt.
Pressebericht Rhein-Zeitung vom 13. 10. 2021