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von Ewald Fischbach
Horchheimer Kirmeszeitung 1988

Ewald Fischbach

Schutzmann Krause

Mit einem Schlag hat sich im Ort viel geändert – die Beschaulichkeit ist einfach nicht mehr da. Das dörfliche „Ha und Hot“ der Kühe vor dem Leiterwagen, der beinahe österreichische Trott der Ochsen vor Schweikerts Karlchens Karren, die Gerüche von Puddel und Mist – all das muß denen weichen, die Benzin als Futter schlucken. Zum Beispiel die Lastwagen mit ihren gräßlichen Sirenen, die beim „Drehen“ so heulende, grausame Geräusche von sich geben. Beim Herannahen der Lastwagen bleibt einem nichts anderes übrig, als in den nächsten Hauseingang springen, um sein Leben zu retten. Man muß sich einfach danach richten. Da gibt es auch den Schutzmann Fritz Krause nicht mehr – jedenfalls ist er in diesen Tagen nirgends zu sehen mit seiner blauen, kokardengeschmückten Dienstmütze, dem strengen faltigen Gesicht, geziert mit langem, dienstergrautem „Sauerkrautsschnorres“, blauer Litewka mit goldglänzenden Messingknöpfen, dem schweren Schleppsäbel, mit dem er rasselnd aus dem Gemeindehaus kommt, und den Zugstiefeln, die noch von 70/71 stammen. Das „Auge des Gesetzes“ ist nicht mehr da. Keiner, der einen bewacht und, wenn es sein muß, auch einsperrt, ins Spritzenhaus („Bollesje“) steckt und den Übeltäter einen Tag später persönlich in Ehrenbreitstein beim Amtsgericht abliefert.

lch erinnere mich noch sehr gut an eine Situation, bei der ich Augenzeuge war. Eines Tages heißt es: „Alle Schläuche und Fahrradmäntel müssen sofort beim Gemeindehaus abgegeben werden.“ Dafür hab ich keine Erklärung. Unser Ortsgendarm Krause steht auf der Mitte der Kirchstraße, neben dem alten Postamt, sieht einen Mann namens Schäfer mit Fahrrad daherkommen – und das auch noch mit allem drum und dran –, während andere schon längst als Ersatz Korken auf den Felgen befestigt haben. Krause ruft dem Radler in preußischem Befehlston nach:

„He – Schäfer muß Jummi abjeben!“ Dieser klassische Ausruf ist heute noch im Dorf im Schwange. Nun weiß auch jeder, Krause ist aus Berlin und soll im Dorf den Leuten Mores beibiegen. Aber heute trifft er auf einen Landsmann, denn Schäfer, den man im Ort „lcke“ nennt, ist auch Berliner. Der fällt vor Schreck mit dem Fahrrad um und landet am Restaurant „Zur Post“ im Tiefflug auf der Treppe. Schnell steht er auf und humpelt – er ist ein wenig gehbehindert – zum Fahrrad, indem er zurückruft: „Nu rejen se sich man nich uff, ick komm‘ morjen zur Jemeinde!“ Damit schwingt er sich auf sein Stahlroß mit „Jummi“ und strampelt ab „durch die Mitte“. Tja – das waren noch Zeiten.

Doch das ist nun alles vorbei! Nein – jetzt herrschen andere Sitten und Bräuche, denen man sich anzupassen hat. Wir Kinder nehmen das alles auf, wissen aber nichts rechtes damit anzufangen. Wie soll man auch? Wir werden wohl gewarnt, nicht immer und überall gleich mit der Nase dabei zu sein, wenn mal irgendwas los ist. Und gerade wo mal was los ist, da sind wir doch dabei – schauen zu, wenn auch aus einer gewissen Entfernung. Was kann einen denn davon schon zurückhalten? Außerdem haben wir ja Zeit, viel Zeit, wir haben doch Zwangsferien.

Übrigens hat der findige Volksmund inzwischen auch einen Necknamen für die amerikanischen Soldaten gefunden den praktisch kurzen Namen „Ami“ gibt’s noch nicht -, und zwar „Kackerlacken“ wegen der braunen Uniformen! Dafür nennen sie uns Deutsche „Käcksäcker“. Kein Kosename, oder? Wir stecken’s weg, was will man machen?


Ein Scheitel für en „Kackerlack“

Eines Tages erreicht uns spielende Kinder am Rasche-Haus die Botschaft: „Do owe en der Wertschaft, newe dä Kerisch, do sen besoffene ‚Kackerlacke‘ drenn, do es wat loß – die MP es onnerwähs!“ Uhwei – Uhwei! Wir natürlich nichts wie hin und kommen grade noch früh genug, um zu sehen, wie die Militärpolizisten auf ihre Art „aufräumen“. Da sehe ich das erste Mal „Wildwest“ – original –. Es sind Zweimeter-Männer, Kerle wie Kleiderschränke, die die betrunkenen Wüteriche, die dabei sind, die Wirtschaft „Zur Post“ zu Kleinholz zu machen, zur Räson bringen.

Wir wissen nur, daß Alkoholsünder bei den US-Soldaten sehr schwer bestraft werden. Davon ein „Vorgeschmack“: Drei oder vier Soldaten werden von ihren Kameraden von der MP so vorsichtig die Steinstufen, die vor dem Gasthaus sind, runtergeschmissen, daß sie unten im „Floß“ (Abflußrinne) blutend liegen bleiben. Die Klappe von dem bereitstehenden Lastwagen ist schon runtergeklappt, und mit „Hau-Ruck“ werden die „Soldiers“ ebenso vorsichtig in den Wagen geschmissen. Der Letzte, der aus der Wirtschaft rauskommt, kann sich noch eben auf den Beinen halten. Voll wie tausend Mann will er auch noch opponieren. Kaum hat er dazu den Mund geöffnet und hebt dabei auch noch den Zeigefinger, zieht ihm so ein Zweimetermann mit dem Gummiknüppel – oder ist der aus Holz? – „einen Scheitel“ über den Schädel. Dem geht’s auch nicht anders als seinen Kameraden, die sich mit „Schnäps“ haben voll laufen lassen.

Klappe zu, der Wagen braust ab mit Sirenengeheul. Wir Kinder stehen da, ich glaube – mit offenen Mäulern.


Das Ding mit dem „Kaarscht“

Zu dieser Zeit geht im Dorf ein Gerücht um, das immer mehr an Form gewinnt. Ich versuche es so wiederzugeben, wie ich es gehört und noch in Erinnerung habe: Eine Frau wird in der Horchheimer Gemarkung von einem betrunkenen Amerikaner belästigt und nicht nur das, sondern auch angegriffen, sogar auf den Boden geworfen. Das sieht ein Horchheimer Bürger – es handelt sich um „Kalteneckers Schorsch“. Der läuft zum Tatort und haut dem Rohling eins über den Schädel, daß der von seinem Opfer ablassen muß. Das Ding, mit dem er zugeschlagen hat – in Notwehr, versteht sich –, ist nur ein ganz gewöhnlicher „Kaarscht“ (Breithacke). Um weiteren Peinlichkeiten aus dem Weg zu gehen, zieht Schorsch es aber vor, für längere Zeit eine andere Besatzungszone aufzusuchen. In meinen Augen – und nicht nur in meinen – ist Schorsch Kaltenecker nicht nur ein Beschützer der Schwachen, sondern ein Held!


Mutprobe mit Bauchlandung

Der Leichtsinn der US-Soldaten ist oft nicht zu überbieten. Gewiß, irgendwie wollen sie der deutschen Bevölkerung imponieren, und darin sind sie große Kinder. Sie betrachten es als Mutprobe, wenn sie unter dem Brückenbogen der Horchheimer Brücke mit dem Flugzeug hindurchfliegen. Die Eltern und Lehrer haben dafür nur ein Kopfschütteln übrig, wir Kinder staunen Bauklötzer! lch weiß auch nicht wie es kommt, daß wir „Hoschemer-Pänz“ auch immer dabei sind, wenn irgendwas Besonderes passiert?

Da kommt wieder mal so’n Flugzeug an und wackelt mit dem Flügel. Das bedeutet, jetzt paßt auf – nun geschieht was. Und alle rufen durcheinander: „Guckt emol, dä Fliejer do owe, dä wackelt met de Flitsche, dä fleecht bestemmt onner dä Breck dorich!“
Und richtig – er tut’s –, und es gelingt ihm sogar ein-zweimal. Aber beim drittenmal streift er den Eisenbrückenbogen und – flatsch – kopfüber im Rhein. Die Maschine treibt, geht nicht ganz unter. Der Pilot schafft es rauszukommen, geht über Bord, erreicht schwimmend den Brückenpfeiler, rastet da und schwimmt an’s Horchheimer Ufer. Prustend klettert er an Land, noch bevor einige Zivilisten den „Millenache“ (ein großer Kahn, der stets an der Löhnberger-Mühle verankert ist) herbeigeholt haben. Amerikaner kommen, befestigen ein Drahtseil an der Maschine, schlingen es um eine Pappel, und ein Lastwagen zieht das Flugzeug – wir sagen immer noch „Flieger“ – endgültig raus.

Wir berichten zu Hause und beginnen mit „…Menschenskind, wor dat heut widder offräjend…“ Jedenfalls, mir Hoschemer Wätz wore och do widder mol dabei!


KINTOPP in Koblenz – Anno 1919

Meine Mutter will mir – und mit Sicherheit auch sich selbst – eine Freude machen und sagt: „Komm Jung, mir fahre en die Stadt, mir giehn en’t Kino. Do wird em Apollo-Thiater en Film gespillt, dä haißt ,Mutter‘, on die Hauptroll spillt do drenn die Henny Porten!“

Mein Gott, das ist ja was! Diese Ankündigung muß ich erst mal verdauen. Was weiß ich schon von Film, von Kino –, und Henny Porten sagt mir gar nichts. Na, wir fahren los. Straßenbahn – von uns nur „Lektrisch“ genannt, Endhaltestelle „Festhalle“. Der Betrieb in der Stadt – noch schlimmer als bei uns im Dorf. Wir kommen zum „Apollo“. Ein Menschenknäuel, und ein tolles Gedränge an der Kasse. Ich sehe ein riesiges Plakat, darauf ein tränenüberströmtes Gesicht, ein Frauengesicht mit der Aufschrift „Mutter“ – mit Henny Porten. Wir stellen uns an das Ende der Menschentraube.

Da kommen US-Soldaten, vier oder fünf, sie bilden eine „Kette“. Auf Kommando eines kleinen, etwas untersetzten rothaarigen Mannes mit sommersprossigem Gesicht, der mit sich überschlagender heller Stimme „Hau-Ruck“ ruft, drängen sie die Menschentraube zusammen. lch höre jedesmal schreiende Frauen- und Kinderstimmen – zwischendurch auch „Hilfe!“ Meine Mutter packt mich plötzlich am Arm und sagt aufgeregt: „Komm schnell eriwwer Jung, off dä anner Sait kenne mer waarte.“ Schnell überqueren wir die Straße, und meine Mutter vertröstet mich auf später, sobald drüben Ruhe eintritt.

Wir stehen da, gucken, warten; aber immer noch die Amerikaner mit ihrem „Hau-Ruck“, das scheinbar wohl international ist. Da kommt mit langen, langsamen Schritten ein Militär-Polizist, mit blauer Armbinde und dem Aufdruck „MP“. Wieder mal ein Riese, die Schirmmütze fast über die Augen gezogen. An einer Messingkette eine Messingtrillerpfeife, die hängt ihm auf der Brust. Kurz bleibt er bei den Randalierern stehen und warnt sie mit erhobener Hand. Nun hören sie endlich auf mit ihrem „fröhlichen“ Tun, und meine Mutter meint: „Sehste Jung, nau hann se offgehiert, glaich kenne mer widder riwwer giehn.“

Kaum hat der MP Mann aber den Rücken gekehrt, geht’s auch schon wieder los mit „Hau-Ruck“ – und wieder Schreie aus dem drängelnden Publikum. Da kommt der MP-Mann zurück, diesmal mit großen schnellen Schritten. Energisch schnappt er sich den Rädelsführer, den Schreihals, zieht ihn zu sich heran und greift zum Colt. Es macht knack und bumm, ein Schuß, dem Schreier von oben in den Kopf. Die Menschen stehen wie gelähmt da, die Soldaten auch – und jetzt?

Jetzt kommt für mich das Unfaßbare: Der MP-Mann hebt seine langen Beine langsam hoch, um über den Zusammengesackten zu steigen, und geht ebenso langsam übers Trottoir bis zum Bordstein. Hier sieht er einen vorbeifahrenden amerikanischen LKW, nimmt die Messingpfeife in den Mund, pfeift damit schrill und deutet dem LKW-Fahrer an, zu kommen. Dann läßt er die anderen Soldaten die Klappe am LKW runter machen und den wie tot Daliegenden einladen.

Ähnliches habe ich in Horchheim einige Zeit zuvor ja auch schon mal gesehen. Der Fahrer bekommt eine Anweisung, und, nachdem die anderen Soldaten eingestiegen sind, braust der LKW ab. Doch nun kommt das für mich rein Unfaßbare: Der baumlange MP-Mann geht mit langen, langsamen Schritten seine Streife weiter als ob nichts, aber auch gar nichts geschehen wäre.

Betroffen fahren wir heim, lassen Kino – Kino sein, reden kein Wort miteinander. ln der Familie wird es niemals erwähnt.

Ewald Fischbach

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